Wie die Flut ein Leben aus der Bahn wirft

„Man kann kaum noch weinen“
14. SEPTEMBER 2021 UM 17:00 UHR

ausgeliehen für die Dauer des Spendenlaufes von der AACHENER ZEITUNG

QUELLENANGABE:
Der hier dargestellte Bericht erschien in der AACHENER ZEITUNG, Autor: Stephan Mohne

MULARTSHÜTTE

Das Leben der Familie Quade aus Mulartshütte ist von schweren Schicksalen begleitet. Aber es war auf deren Folgen ausgerichtet und entsprechend organisiert. Bis die Flut kam und dieses Leben vollends aus der Bahn warf.

Über Mulartshütte strahlt die Sonne vom Himmel. In dem 300-Seelen-Ort ist es ganz ruhig. Auf ihrer Terrasse steht Susanne Quade. Ihr Grundstück grenzt an den Vichtbach, der leise in seinem Bett plätschert. Es ist ein wunderbarer Spätsommermorgen. Susanne Quade kann ihn nicht genießen. In ihrem Blick schwingen die Bilder jenes Tages mit, als die Sonne nicht strahlte, es alles andere als ruhig in Mulartshütte war, als der kleine Vichtbach zum reißenden Strom wurde und als die Wassermassen ihr Haus trafen. Es waren Stunden der Angst. Es waren Stunden, in denen das ohnehin von schweren Schicksalsschlägen geprägte, jedoch bis dahin auf dieses Schicksal fokussierte und organisierte Leben der Familie Quade vollends aus der Bahn geworfen wurde.

Blicken wir auf dieses Leben:

Die Familie Quade stammt aus Mecklenburg- Vorpommern. An einem Gartentor erinnert eine Baumscheibe daran, in die jemand „Peeneland“ geritzt hat. Vor 13 Jahren zog Susanne Quade mit ihrem damaligen Ehemann an die Zweifaller Straße in das Haus mit der Nummer 39. Vor zwölf Jahren kaufte man es. Die Eltern von Susanne Quade zogen auch ein und beteiligen sich an der Kreditabzahlung. „Es war immer als Generationenhaus geplant“, erzählt die 36-Jährige. Vor neun Jahren kam die dritte Generation dazu, ihr Sohn Ben kam zur Welt. Nach einiger Zeit erhielt die Familie die Diagnose: Ben leidet an frühkindlichem Autismus. Es ist eine schwere Autismus-Variante, die unter anderem mit starken Entwicklungsstörungen einhergeht. Ben ist zwar neun Jahre alt, aber auf dem Entwicklungsstand eines etwa einjährigen Kindes. Als die Diagnose kam, war Susanne Quade mit ihrer heute sieben Jahre alten Tochter Paula schwanger. An der schweren Behinderung von Ben zerbrach unterdessen die Ehe mit ihrem Ex-Mann. Tochter Paula kam ebenfalls behindert zur Welt. Sie hat das Asperger-Syndrom, auch eine Autismus- Variante. „Vom Kopf her ist sie sehr weit“, sagt Susanne Quade. Bei Asperger stehen sozial-emotionale Probleme im Vordergrund. Als sei das alles noch nicht genug, leidet Susanne Quades Mutter, 56 Jahre alt, an Lungenkrebs.

Erzählen wir von diesem Grundstück:

Vor dem Hintergrund der Handicaps ihrer Kinder haben Susanne Quade und ihr Lebensgefährte das große Areal, das 6500 Quadratmeter misst, zu einer ganz speziellen Umgebung gemacht, insbesondere zu einer Art „Ben-Welt“. Denn während Paula zum Beispiel in die Schule geht, kann Ben das Areal nicht verlassen. Er läuft einfach weg, wenn er kann. „Dabei verfügt er über keinerlei Gefahrenabschätzung und kann sich nicht verständigen“, so Susanne Quade, die früher als Versicherungskauffrau arbeitete, diesen Job aufgrund des familiären Aufwands aber schon lange nicht mehr wahrnehmen kann. In den Zoo gehen? Undenkbar. Auf ein Freizeitgelände zum Spielen? Undenkbar. Also wurde das Grundstück für Ben „fluchtsicher“ gemacht. Etwa mit Zäunen. Außerdem gab es einen dichten und hohen Heckenbewuchs. Dazu viele große Bäume. Mit einem Aufwand von 6000 Euro bauten sie eigenhändig einen ganzen Spielplatz. Und dann gab es noch die Stallungen. Weil eben ein Besuch im Zoo außerhalb von Bens Lebensrealität liegt, hatten die Quades Tiere. Viele Tiere. 100 Hühner zum Beispiel. Enten und Kaninchen auch. Und zwei Schweine.

Blicken wir auf das Haus:

Es ist ein großes, altes Bruchsteinhaus mit einem Anbau. Es bietet seinen sechs Bewohnern und ihren besonderen Bedürfnissen reichlich Platz. Auch innen musste mit Blick auf Ben in Sonderinventar investiert werden. So etwa in ein für ihn geeignetes Bad mit Dusche ohne Wände und für zwei Personen. Dafür musste man auch erneut Kredit aufnehmen. Bald sollte Ben in einem eigens hergerichteten Therapiezimmer zu Hause Unterricht erhalten.

Und dann kam der 14. Juli:

„Niemand hätte sich so etwas vorstellen können. Damit konnte niemand rechnen“, sagt Susanne Quade, die sich erinnert: Am Anfang floss der Bach schneller und stärker als sonst. Dann trat er ein bisschen über die Ufer. Dann mehr. „Ich habe gedacht, dass es das gewesen sein muss und dass das Wasser ja nicht weiter steigen könne.“ Ein Irrtum. Irgendwann machte sich die Familie Gedanken über Sandsäcke zum Schutz. Doch es kamen keine. Im Bürgerhaus wurden blaue Säcke verteilt. Die füllte man mit dem Sand vom eigenen Spielplatz. Das Wasser stieg immer höher, doch es war „nur“ die erste Welle.

Es kam die zweite Welle. „Dann ging alles sehr schnell“, erzählt Susanne Quade. Das Wasser kam nun die Zweifaller Straße herunter geschossen und bog als reißende Flut zu allem Überfluss in Höhe des Quade-Hauses auf das Grundstück ab. Jetzt galt es, zunächst zu versuchen, die Tiere zu retten. Nachbarn kamen, man bildete eine große Menschenkette und versuchte, Tiere in einen auf dem Areal stehenden Wohnwagen zu bringen, der quasi zur Arche Noah wurde. Dennoch: „Viele der Tiere sind verendet.“ Nur 30 von 100 Hühnern überlebten. Die Schweine wurden von der Flut mitgerissen. Aber: Schweine sind sehr gute Schwimmer. Also schwammen sie mit dem Wasser Richtung Zweifall, wo sie es irgendwie und irgendwo geschafft haben müssen, herauszukommen. Denn: „Sie kamen später über die Straße wieder zurück gelaufen.“

Die Familie Quade versuchte noch, Holzbalken vor Türen zu legen und Wasser mit dem Besen wegzubekommen. „Das waren natürlich völlig sinnfreie Verzweiflungstaten. Es war beängstigend, wir waren machtlos und gelähmt“, beschreibt Susanne Quade die Gefühlslage in diesen Stunden.

Das Wasser stand schließlich zwei Meter hoch auf dem Grundstück. Die Erdgeschosswohnung war geflutet, die dort lebenden Eltern flüchteten nach oben in die Wohnung von Susanne Quade. Wo das Wasser auf das Grundstück abbog, wurde das Fundament des Anbaus meterhoch freigelegt und unterspült. Der Anbau kippte ein Stück, wodurch es auch im Haupthaus zu Rissen in Wänden und Dach kam. Nun strömte das Wasser nicht nur von unten, sondern auch in Form des prasselnden Regens von oben herein. Der Dachboden wurde schwer in Mitleidenschaft gezogen.

Die Familie verharrte in Angst im oberen Hausbereich. Dann kam die Rettung. In Form eines schwimmfähigen Fahrzeugs des Technischen Hilfswerks. Die Quades wurden aus einem Fenster im ersten Stock in das Fahrzeug geholt und zu einer Schule nach Roetgen gebracht. Die Eltern wollten sich nicht evakuieren lassen, blieben zunächst dort. Später mussten sie das Haus doch noch verlassen.

Was dann folgte:

Das Wasser war nach zwei Tagen wieder weg. Es blieb eine Trümmerlandschaft. Auf dem liebevoll zurechtgemachten Außengelände war alles zerstört. Die Hecken waren weggerissen, die Zäune auch, 35 große Bäume mussten gefällt werden, weil sie unterspült waren. Nebenan sieht eine Brücke über die Vicht aus wie ihr Pendant in Remagen. Sie ist nämlich bis auf die Lager nicht mehr da. Der Spielplatz ist weg, die Stallungen sind weg. Ins Fundament des Anbaus mussten Dutzende Kubikmeter Beton gekippt werden, um ihn zu stabilisieren.

Im Haus selber ist fast nichts mehr. Das Mobiliar wurde komplett zerstört. Ein Bett von Ben konnten sie nach aufwändiger Reinigung retten. Zum Glück. Es ist eine zwei Meter hohe Spezialkonstruktion, aus der der Junge nachts nicht weglaufen kann. Sie kostet neu 16.000 Euro. Nach jahrelangem juristischen Streit um die Übernahme der Kosten dafür hat Susanne Quade für 3500 Euro seinerzeit ein Gebrauchtes gekauft. Es riecht feucht und muffig, ja sogar beißend. Trocknungsgeräte haben sie erst vor ein paar Tagen bekommen können, längst hat sich der Schimmel überall breitgemacht.

Wochen in einem alten Wohnmobil gelebt, das vor dem Haus steht. Man kann sich kaum vorstellen, wie das funktioniert haben kann. Das größte Problem: Das Grundstück war nun mit Blick auf Ben nicht mehr „fluchtsicher“. Irgendwann konnten sie ins Hotel Lammersdorfer Hof, wo es Räume für Flutopfer gab. Wegen der Kinder konnte das aber auch keine Lösung sein. Ein vorübergehendes Ersatzhaus war natürlich kaum zu finden. Es muss den Quades wie ein Wunder vorgekommen sein, als eine ältere Dame ins Spiel kam, die offenbar auch von ihnen gehört hatte. Die über 80-Jährige war ins Seniorenwohnheim gezogen, ihr Haus in Konzen wollte sie laut Susanne Quade verkaufen. Doch nun stellte sie es der Familie zur Verfügung, wo diese jetzt erst mal lebt. Für alle war das Haus jedoch zu klein, die Eltern von Susanne Quade sind derzeit im Aachener Ortsteil Orsbach untergebracht. Für Ben hat sich zumindest eine Therapiemöglichkeit aufgetan. Die Regenbogenschule in Stolberg habe dafür einen Raum zur Verfügung gestellt.

Apropos Hilfe:

Außer der Seniorin gab es noch viele, die halfen. „Die Hilfsbereitschaft war einfach unglaublich“. Es tauchten zum Beispiel Leute auf, die Susanne Quade nicht kannte. Sie hatten Holzbalken und Drahtzaun dabei. Und zäunten ein Areal für Ben ein, als die Familie noch im Wohnmobil ausharren musste. Sie mussten von dem Schicksal gehört haben. Susanne Quade meint, dass sie wohl vom VfL Vichttal kamen, bei dem Tochter Paula Fußball spielt. Und es kamen andere Menschen. Sie halfen zum Beispiel bei der Müllbeseitigung auf dem Grundstück. Es kamen wieder andere. Sie gaben Geldspenden ab. Und es kamen jene, die Möbel für die Übergangsbleibe in Konzen brachten. „Wir haben eine Liste mit den Namen angefangen, um uns irgendwann mit einem Grillfest zu bedanken.“ Doch mittlerweile stehen weit über 70 Namen darauf. Es werden wohl noch einige hinzukommen. Zum Beispiel der Aachener Lohnsteuerhilfeverein, dessen Vorsitzender Michael Slomka durch Zufall auf die Familie kam. In Kooperation mit der Pfarre St. Anna Walheim wurde gesammelt. 6000 Euro sind bis heute zusammengekommen. Unterstützung erfährt die Familie auch durch das Hilfswerk „Menschen helfen Menschen“ unserer Zeitung (siehe Zusatzinfo). 3000 Euro öffentliche Soforthilfe flossen auch. Ob das Milliardenprogramm des Bundes auf solche Fälle Anwendung findet, weiß Susanne Quade noch nicht.

Der Blick in eine unsichere Zukunft:

Was bleibt, ist der Blick nach vorne. Doch der ist zunächst einmal düster. Eine Architektin hat errechnet, dass alleine die Wiederherstellung des Außengeländes 150.000 Euro verschlingen wird. Da ist am Haus aber noch kein Stein bewegt. Unsicher ist, ob es überhaupt saniert werden kann. Unter dem Fundament sind bei ersten Untersuchungen Hohlräume festgestellt worden. Also abreißen und neu bauen? Auch nicht so einfach. Das Haus steht unter Denkmalschutz, zumindest die Fassade müsste stehenbleiben. Es sei denn, es gibt doch noch Sonderregelungen für Flutopfer. Susanne Quade hat bislang vergeblich versucht, Kontakt zur Denkmalschutzbehörde aufzunehmen.

Und letztlich muss das alles ja auch bezahlt werden. Das Außengelände und der Hausrat sind nicht elementarversichert. Beim Haus ist offen, was die Versicherung letztlich zahlen wird. Laut Susanne Quade deutet sich aber an, dass dies eine strittige Angelegenheit werden könnte. Ein Sachverständiger kam, doch er kapitulierte vor dem Umfang der Schäden. Ein anderer sollte kommen, was bisher aber nicht geschehen sei. Die Hälfte der Kreditlaufzeit fürs Haus ist vorbei. „Wir waren auf einem so guten Weg, aber jetzt müssen wir vielleicht wieder bei null anfangen“, sagt Susanne Quade. Sie würde gerne arbeiten, doch das ist bei den täglichen Anforderungen der Kinder völlig undenkbar.

So bleibt zunächst nur eine großes Maß an Verzweiflung: „Wir wissen überhaupt nicht, wo wir anfangen sollen“, sagt Susanne Quade und fügt hinzu: „Man kann kaum noch weinen.“ Und muss dabei doch ihre Tränen zurückhalten. Fassungslos ringen Reporter und Fotograf beim Abschied im Angesicht dieser Geschichte und dieses Schicksals nach Worten und belassen es dann ratlos bei „alles Gute.“ Im strahlenden Sonnenschein über Mulartshütte und vor den Trümmern der Flut sagt Susanne Quade: „Danke, dass Sie gekommen sind.“ Und sie sagt noch: „Ich bin eine Kämpferin.“